Die Vergangenheit lebt in uns weiter

Als sich Kurt Freiherr von Plettenberg im Gebäude der Geheimen Staatspolizei in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 aus dem Fenster des Vernehmungszimmers in den Tod stürzt, ist seine Tochter Dorothea knapp eineinhalb Jahre alt. Es ist der 10. März 1945, ungefähr 11.30 Uhr. Der Freitod des Vaters beschäftigt sie bis heute.

Zum Tod meines Vaters gibt es einen Augenzeugen. Fabian von Schlabrendorff hatte ihn während des Kriegs kennengelernt: Ein „entschiedener Gegner des Naziregimes“. Sie waren sich einig, - die „gewaltsame Beseitigung des Hitler-Systems“ musste stattfinden. Im März 1945 saß von Schlabrendorff wie mein Vater im Gefängnis der Reichsicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße ein. In einem Brief im Jahre 1957 schreibt Schlabendorff: „Eines Morgens unterhielten Herr von Plettenberg und ich uns auf dem hinter den Zellen gelegenen Hof. Herr von Plettenberg schilderte mir, dass er vor einem schweren Entschluss stünde, da die Gestapo ihm Zwangsmaßnahmen und Folterungen androhe, falls er sich, wie bisher, weigere, Namen aus dem Widerstandskreis bekannt zu geben. Plettenberg fuhr fort, er sähe keine andere Möglichkeit als die, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen, da er nicht gewillt sei, der Forderung der Gestapo nachzukommen. Ich widersprach Plettenberg und bat ihn, seinen Entschluss so lange wie möglich herauszuzögern. In diesem Augenblick unserer Unterhaltung wurden wir durch Beamte der Gestapo voneinander getrennt. (…) Einige Stunden später wurde die Nummer der Zelle aufgerufen, in der sich Herr von Plettenberg befand. Ich konnte hören, wie Beamte der Gestapo Herrn von Plettenberg zu einer Vernehmung in eines der oberen Stockwerke abholten. Kurze Zeit darauf war ein auffallendes Geräusch zu hören. Ich blickte aus dem Fenster der Zelle und sah, etwa vor meinem Fenster, Herrn von Plettenberg liegen. Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Wenige Minuten später erschienen Beamte der Gestapo und trugen den Leichnam des Herrn von Plettenberg aus dem Hof fort. Hierbei erzählten sie sich, Herr von Plettenberg habe auf den Hinweis der Gestapo, dass nun Gewalt gegen ihn angewendet würde, falls er bei seiner Weigerung bleibe, einem der leitenden Beamten einen Kinnhaken versetzt, sei im unmittelbaren Anschluss daran auf das Fensterbrett gesprungen und habe sich von hier aus auf den Hof gestürzt.“

In einem Brief, den Fabian von Schlabrendorff am 8. Januar 1946 an meine Mutter Arianne schrieb, schildert er diesen Vorgang sehr ähnlich und schreibt zusätzlich: „Ich habe während meiner Gefängniszeit viele Menschen in den Tod gehen sehen, die meisten blieben dabei ernst und würdig. Ihr Herr Gemahl war mehr. Frei und lächelnd hat er, um seine Freunde und seine Familie zu bewahren, den schweren Entschluss gefasst, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. In der gleichen Haltung hat er seinen Entschluss durchgeführt.“

Kurt von Plettenberg
Kurt von Plettenberg

Mein Vater stand, wie viele seiner Kameraden des Infanterieregiments 9 und einige seiner Freunde, hier vor allem Carl-Hans von Hardenberg, Heinrich von Lehndorff, die Brüder Kurt und Ludwig von Hammerstein, Axel von dem Bussche und Marion Gräfin Dönhoff, in aktiver Verbindung zum geplanten Umsturzversuch. Man kann von einem „Netzwerk“ sprechen, zu dem er gehörte. Durch den Sprung aus dem Fenster blieb mein Vater von den ihm angedrohten körperlichen Qualen der Folter verschont und konnte so der Gestapo keine Namen der Mitverschworenen nennen. Allerdings war das Kriegsende sehr nahe und mein Vater hätte es vielleicht geschafft, wie Schlabrendorff, zu überleben.

Bei meiner Patentante Marion Dönhoff habe ich einmal anlässlich eines Besuchs einen Gobelin gesehen, auf dem das Motiv eines Schützen zu erkennen war, der eine Waffe angelegt hatte. Hinter ihm stand eine Figur, ich meine es sei eine Frau gewesen, die mit ausgestrecktem Arm und Finger das Ziel anzeigte. Die Menschen im Widerstand gegen Hitler und das Nationalsozialistische Regime wünschten sich dringend den Schuss, das gelungene Attentat. Ich habe mich später von dem romantischen Bild eines Drachentöters gelöst und erkannt, dass die Leistung meines Vaters in dieser Zeit neben dem Mitplanen des Umsturzes der Schutz der noch lebenden Freunde und der Hohenzollern war, für die er arbeitete. Vorsicht, Verlässlichkeit und Loyalität formten diese Leistung. Man hätte sich vielleicht den erfolgreich tötenden Schützen gewünscht, aber seiner Persönlichkeit entsprach womöglich sogar noch mehr die Verteidigung. Sein „noblesse oblige“, die traditionelle Ehre des überzeugten Sterbens für einen Wert, die im Adel betont wurde, bestand in diesem Zusammenhang nicht im Angriff und Töten, sondern im Bewachen und Schützen, dem sich-Opfern. Mein Vater konnte mit seinem Satz aus dem Fenster und dem Lächeln zeigen, was in ihm war:  Er war frei und mit dem Guten verbunden, - und er war der erfolgreiche letzte Gardist der Hohenzollern.  

Die Männer des 20. Juli 1944 bekamen keine Gräber; ihre Asche soll auf die Felder bei Berlin gestreut worden sein. Da wird es niemanden wundern, dass unsere Mutter erst Tage später von dem Tod ihres Mannes erfuhr und dass sie auch nicht bei seiner Beisetzung sein konnte. Aber erstaunlicherweise fand eine statt, allerdings unter Auflagen: Keine Öffentlichkeit, keine Wahrheit, nicht mehr als drei Kränze. Das Grab unseres Vaters befindet sich in Potsdam-Bornstedt. Man kann von dort direkt über die kürzlich so benannte Plettenbergwiese in den Park Sanssouci gehen. Auf diesem Friedhof sind viele Gräber alter preußischer Familien und diese Geschichte des Friedhofs in Bornstedt wurde von Pastor Gottfried Kunzendorf schon zu DDR-Zeiten gepflegt. Er sorgte dort auch für eine Gedenktafel für Henning von Tresckow und wurde kürzlich für seine Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Eine Tochter Tresckows, Uta von Aretin, war zu dieser Feier mit 90 Jahren aus München angereist und auch ich.

Arianne von Plettenberg
Arianne von Plettenberg

Das alte Holzkreuz des Grabes unseres Vaters wurde kurz vor der Wende, 1989, durch einen Grabstein ersetzt und das Kreuz in der „Märtyrerecke“ der Friedhofskirche aufgestellt. Am 10. März 2005 hielt ich 60 Jahre nach seinem Tode eine Rede am Grab, und bezog mich darin auf einen Brief meines Vaters vom 1. November 1914, den er im Alter von 23 Jahren an seine Mutter anlässlich des Todes seines Bruders Karl-Wilhelm verfasste: „Du schreibst mir: Für uns bliebe nur das schmerzliche Entbehren – und mit dem Stolz würde einem zu oft etwas vorgeredet. Mein liebes Mütterlein, – es ist auch sehr schmerzlich dieses Wissen, aber mich tröstet der Stolz doch. (…) Auch hier wird ja mancher vom Tode ereilt, der nur vor den Augen der Welt den ‚Heldentod’ stirbt, dem aber die Angst in den Knochen saß und der eben nur starb, weil er nicht anders konnte. Unter richtigem Heldentod verstehe ich aber – so war es bei Karl-Wilhelm und so ist’s Gott sei Dank in anererbter Tugend auch bei den meisten unseres Volkes – ein frohes zuversichtliches Entgegensehen und Entgegengehen mit dem Willen, das zu zeigen, – dass man innerlich frei ist, dass man die Kraft hat, seinem Ideal zu folgen bis zum letzten Atemzuge. – Darauf sollst Du stolz sein.“

Ich möchte heute meiner Großmutter zustimmen, die, von Schmerz erfüllt, den Sinn des Todes ihres Sohnes Karl-Wilhelm in Frage stellte. Die Moral des Heldentums, die damals die Männer prägte, brachte den Müttern, Frauen, Kindern und Freunden tatsächlich nur sinnloses Leid und Tränen. Diese Gefühle wurde jedoch den nationalen Idealen gegenüber als nachrangig behandelt und zählte nicht so sehr wie Ehre, Mut und „Tod für das Vaterland“. Den Menschen wurde mit der Ehre des Sterbens etwas „vorgeredet“, wie meine Großmutter richtig sagt und auch mein damals junger Vater war von diesem Denken geprägt. Sein Freitod hatte jedoch mit dieser Denkart nichts mehr zu tun. Er wollte – ganz einfach – andere Menschen bewahren, schützen und sicherlich wollte er auch seine Selbstachtung bewahren.

Auf dem Kreuz und auch auf dem Grabstein meines Vaters steht: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lasset für seine Freunde“. (Johannesevangelium. Kap. 15, Vers 13)

Der Verlust des Vaters prägte unsere Familie natürlich tief und auch sein Tod als politisch-moralisch motivierter Freitod. Oder war es umgekehrt? War der politisch-moralisch motivierte Freitod prägender für uns als der Verlust unseres Vaters?

Die Kinder: Christa-Erika, Dorothea und Karl-Wilhelm
Die Kinder: Christa-Erika, Dorothea und Karl-Wilhelm

Meine Mutter wachte einmal, zwei, drei Jahre nach seinem Tod, nachts auf und befand sich ebenfalls auf dem Fensterbrett. Zum Glück war das Fenster geschlossen. Die schwere Traumatisierung durch seinen Tod und die anderen grauenhaften Erfahrungen in den damaligen Jahren überdeckte sie – zunächst – durch Pflichten; sie hatte schließlich drei Kinder, Christa-Erika (9), Karl-Wilhelm (7) und mich (knapp anderthalb Jahre). Sie war in Bückeburg der Mittelpunkt der aus dem Osten geflüchteten Großfamilie, also ihrer Eltern und dreier Schwestern, Veronika, Hadumoth, Dietlinde, sowie der holländischen Schwägerin Ank mit Zwillingen, Paul und Dietz, Kinder ihres damals an der Ostfront vermissten Bruders Hans-Axel.  (Sie hofften alle immer noch, er käme zurück, aber umsonst.) Ein Bruder, Bernd-Dietrich, Dietz genannt, war beim Einmarsch in Warschau am 17. September 1939 von einem Scharfschützen erschossen wurden. Er war damals 21 Jahre alt. Ihre Schwester Irmela starb in Bethel und ihre Schwester Veronika, die ihrem Vater in Pommern beistand, als die Russen einmarschierten, stürzte sich – wir vermuten unfreiwillig schwanger, der Ehre der Familie wegen – vor einen Lastwagen.

Meine Mutter, zum Zeitpunkt des Freitods meines Vaters 30 Jahre alt, hat dann in der Musik und beim Klavierspiel einen Halt gefunden. Sie sang sehr oft mit uns. „Ich hatt’ einen Kameraden“, „Es war ein König in Thule“, Weihnachtslieder. Wir Kinder waren davon geprägt. Mein Bruder spielte Cello, meine Schwester und ich erhielten Klavierunterricht, ich sang später in einem Chor, und man kann diese Liebe zur Musik auch bereits in der Familie meiner Tochter erkennen.

Ein großer Kummer ist bis heute, dass wir keinen Abschiedsbrief unseres Vaters haben. Einem Mitglied der Hohenzollernschen Verwaltung, Herrn Berg, wurde allerdings eine Art Brief – eventuell in Auszügen – vom SS-Obersturmführer Valentin vorgelesen, welcher sich jedoch nicht an die Familie wandte. Berg erinnerte sich noch an drei Aspekte: „Ich fürchte den Tod nicht, denn ich habe einen gerechten Richter.“ „Wird man für meine Familie sorgen können?“ „Bitte den Apfel und die Zigaretten, die noch in meinem Besitz sind, dem Wärter zu geben, der immer so freundlich zu mir war.“  Er teilte all das meiner Mutter in einem Brief mit. Besonders der letzte Wunsch meines Vaters rührt mich immer! Dass er die Mitmenschlichkeit bis zuletzt so warm lebte, das finde ich eindrucksvoll. –  Dass er „die Familie“ nur etwas anklingen lässt, könnte mit der Gefahr der Sippenhaft zusammenhängen.

Uns Kindern sagte unsere Mutter: „Euer Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben“. Wir waren – und das sah sie sicherlich richtig – einfach noch zu jung für die Wahrheit. 1952 wurde von der Bundeszentrale für Heimatdienst eine Sondernummer der Wochenzeitung „Das Parlament“ herausgegeben, die „Tat und Opfer des 20. Juli“ würdigte.  In dem Sammelband waren neben einer geschichtlichen Aufarbeitung des 20. Juli kleine graue Fotos und unter jedem Foto ein kurzer Text zu den Männern und Frauen des Widerstandes.  Das Buch lag bei uns auf einem Tisch. Ich blätterte darin und erkannte durch Zufall auf einem Foto meinen Vater, weil das gleiche Bild bei uns im Silberrahmen im Wohnzimmer stand. Ich las, dass er sich das Leben genommen habe. Ich lief zu meinem Bruder und der zu unserer Mutter und so erfuhren wir die Wahrheit. Meine Mutter hatte – nicht nur uns gegenüber – über die Gründe zum Tod ihres Mannes geschwiegen. Es gibt einen Brief aus dem Jahr 1947 an den Dichter Reinhold Schneider, in dem sie das erklärt: „Sehr verehrter Herr Schneider, über die Betreuungsstelle des Grafen Hardenberg in Nörten bekam ich das Büchlein ‚Gedenkwort zum 20. Juli’ mit Ihrer Widmung zugeschickt. – Es ist mir ein Bedürfnis Ihnen ganz besonders dafür zu danken und Ihnen zu sagen, dass mich dieses Büchlein sehr bewegt hat. Es ist das Erste dieser Art, was ich gelesen habe, in dem nicht der äußere Ablauf der Dinge, der ja mit dem eigentlich Wesentlichen so wenig zu tun hat, beschrieben wird, sondern in dem auf die eigentlich inneren Gründe eingegangen wird. Die ganzen schweren Gewissensqualen und Kämpfe, die meinen Mann Tag und Nacht beschäftigten, dieses bewusst schuldig werden müssen um der Wiederherstellung des Rufes willen, diese grauenvolle Verstrickung von Gut und Böse, unter der er so litt, und dann doch dieses sich zur Tat Durchkämpfen mit der sicheren Ahnung, dass das alles zu spät war und doch getan werden musste, dies alles haben Sie so eindringlich dargestellt. Es ist so schwer, Menschen, (...) nachträglich klar zu machen, worum es diesen Männern ging. Es ist wohl fast unmöglich, sich nachträglich in all dies hineinzuversetzen, und ich persönlich hatte es eigentlich aufgegeben mit anderen Menschen, die nicht in dieser Arbeit gestanden hatten, darüber zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, sie verstehen dich nicht, und es ist so ganz zwecklos. – Ihr Büchlein hat mir wieder Mut gemacht. Vielleicht, dass doch dieser oder jener von dem Geist, der aus ihm spricht, angerührt wird. Und dass er dann die Verpflichtung versteht, die vom Tode dieser Männer für uns alle entsteht. Ich danke Ihnen sehr für das Geschenk, in dem mein Mann mir wieder so sehr lebendig wurde. ...

Mit einer Empfehlung bin ich Ihre

sehr ergebene

Arianne Baronin Plettenberg“

Wenn ich die Bedeutung meines Vaters und die Bedeutung seines Todes für die Familie betrachte, möchte ich nun vor allem meinen Bruder Karl-Wilhelm nennen. Er fügte sich in die Andenkenpflege, was recht belastend und auch zeitintensiv und dauerhaft war. Er tat das eigentlich allein, – auf jeden Fall viel mehr als meine Schwester und ich, obwohl er als Stadtplaner in der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen stark gefordert war. Später kam eine schwere Erkrankung unserer Mutter, eine Depression, zu den Aufgaben hinzu. Auch hier stellte er sich wieder der großen Verantwortung. Er arbeitet seit seinem Ruhestand für Amnesty International.

Meine Schwester Christa freute sich immer, dass mein Vater – der in seiner Militärzeit einmal Meister seiner Gewichtsklasse im Boxen gewesen war – dem leitenden Beamten einen Fausthieb verpasst haben soll. Sie lebte in Hongkong. Sie hatte Politische Wissenschaften und Sinologie studiert, erarbeitete die Hauptinformationen der chinesischen Presse für das 1. und 2. Deutsche Fernsehen und war mit einem Engländer verheiratet, der in der Kronkolonie als Anwalt arbeitete. Die furchtbare Vergangenheit Deutschlands war ihr sehr präsent. Als sie einmal unsere Mutter in Frankfurt besuchte, sagte sie zu mir, dass sie Deutschland verachte und froh sei, in diesem Land nicht mehr leben zu müssen. Sie gründete – sicherlich in innerer Verbindung mit unserem Vater und seinem Tod – in Hongkong mit einem Geistlichen zusammen eine Initiative „Helping Hand“, die sich um vereinsamte alte Menschen kümmert, die oft nichts anderes hatten als ein Bett hinter einem abschließbaren Gitter. Ihre Arbeit wurde sogar durch einen Besuch von Mutter Teresa, die mit ihr die neuen Wohnungen besichtigte, gewürdigt.  Meine Schwester starb mit 52 Jahren. Sie war zu der Zeit mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern, Olivia und Nicola, nach London umgezogen.

Christa von Plettenberg mit Mutter Teresa
Christa von Plettenberg mit Mutter Teresa

Persönliche Erinnerungen an meinen Vater habe ich nicht, – ich soll allerdings als kleines Kind im Wagen „Papa, Papa“ gerufen haben, wenn die jüngste Schwester meiner Mutter, mich im Park oder auf der Straße im Kinderwagen ausführte und uns ein Mann entgegenkam.

Meine Schwester und mein Bruder haben zwar einige lebendige, aber ebenfalls nicht sehr viele Erinnerungen. Unser Vater war 1939-1941 erst an der Westfront und dann als Bataillonskommandeur an der Ostfront. Zuvor und danach leitete er zwei große Verwaltungen, eine ab 1937 in Bückeburg für das Haus Schaumburg-Lippe und ab 1942 eine für die Hohenzollern mit Sitz in Berlin.

Mein Leben stand in jungen Jahren in keiner bewussten Verbindung zu meinem Vater. Den Druck, ich müsse meinem Vater, den Männern und Frauen des Widerstandes an moralischer Ehrwürdigkeit entsprechen, fühlte ich nicht in mir. Er wurde jedoch in vielen Texten der fünfziger und sechziger Jahre – nach der Phase der Verachtung als Vaterlandverräter – aufgebaut. So schrieb etwa der Schriftsteller Reinhold Schneider: „Der 20. Juli hat eine todernste Forderung hinterlassen; wollen wir der Opfer jener Tage in Wahrheit gedenken“ (Reinhold Schneider in: Babette Stadie (Hg.), Die Macht der Wahrheit, S. 219 f.) Auch meine Mutter war von dieser Moral geprägt, wenn sie in ihrem Brief an Schneider von der „Verpflichtung“ (...) spricht, „die vom Tode dieser Männer für uns alle entsteht.“ Schneider zeigt große Empathie für die Frauen der Opfer des 20. Juli – damals recht ungewöhnlich: „Im Entschluss zur tätigen Sühne sind uns die Männer des 20. Juli vorausgegangen. Sind sie nicht sehr einsam geblieben? Wir können nicht von ihnen sprechen, ohne der Frauen an ihrer Seite zu gedenken. Welches Leid haben sie getragen und verschwiegen, welche Bewährung geleistet, mochten sie nun wissen oder nur ahnen, helfen oder warnen, hoffen oder verzweifeln! Und wie entsetzlich allein waren oftmals auch sie.“ (s. o. S. 230)

Mich beeinflussten statt eines väterlichen Vorbilds die Gedanken der sogenannten 68er. Ich studierte an der Freien Universität Berlin Germanistik und Romanistik. Privilegien, vor allem die des Adels, lehnte ich damals als unsozial ab, und ging deshalb ein bisschen in Abstand zur Familie und auch zur Familiengeschichte. Das Entsetzen über die Nazizeit und der Beginn der Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte beherrschte unsere Auseinandersetzungen neben den sachlichen Aspekten unserer Studiengänge. Wir beschäftigten uns auch mit der von Karl Marx entwickelten Gesellschaftstheorie, mit Sigmund Freud, mit der Frankfurter Schule. Wir demonstrierten gegen den Vietnamkrieg.  Vor allem entwickelten wir einen antiautoritären Geist, der sich gegen dumme Unterordnung wandte, die in unserer Geschichte so viel Unheil angerichtet hatte. Wir wünschten uns mehr Zivilcourage.

Ohne es mir so recht bewusst zu machen, hatte ich den Tod meines Vaters in meinem Herzen: Ich wurde mal in den Siebzigern für eine Fernsehsendung Rolf Seelmann-Eggebergs zum 20. Juli interviewt und gefilmt. Zu meinem eigenen Erstaunen brachte ich plötzlich tiefe Bedeutung meines Vaters und seines Todes für mich zum Ausdruck. Es wurde mir erst durch dieses Interview lebendig und bewusst, dass dieses Andenken in mir lebte!

Als Pensionärin hatte ich dann die Ruhe, einen Briefwechsel meines Vaters mit Marion Gräfin Dönhoff zu bearbeiten. Er blieb Privatdruck.  Ich habe anschließend auch an der Biographie zu meinem Vater sehr aktiv mitgearbeitet. Mein Bruder, der Autor und ich freuen uns, dass diese bereits in zweiter Auflage in England erscheint.

Nach dem Krieg wurde das Hilfswerk 20. Juli, später Stiftung 20. Juli, gegründet, das die Witwen und Kinder der Väter des 20. Juli unterstützte. Bis heute hat unsere Familie Halt und Orientierung in der Erinnerungskultur und ihren Organisationen gefunden, die sich langsam aufbauten. Der Vorrang der konservativ-militärischen Traditionsbildung ist bis heute erkennbar, – allerdings entsprang ja auch der Versuch zum entscheidenden Putsch diesen Kreisen. Ich sollte hier auch an die so großzügige private Initiative von Dr. med. A. von Erlach erinnern, der viele von uns Kindern zur Erholung in die Schweiz einlud. Das Gedenken an den Widerstand, zu dem ich inzwischen neben dem 20. Juli auch alle anderen Widerstandsformen zählen möchte, ist inzwischen in der Bundesrepublik Deutschland zu großer Bedeutung gelangt. Die Verbindung der Gedenkfeiern mit der Rekrutenvereidigung war – nicht nur für mich – problematisch.

Unsere Mutter heiratete 1954 ein zweites Mal und zwar einen Regimentskameraden und entfernten Vetter unseres Vaters aus dem Infanterie-Regiment 9, Constantin Freiherr von Quadt. Wir nannten ihn Onkel Conni. Er hatte nach dem Krieg und nach zwei Jahren englischer Kriegsgefangenschaft sein Assessorexamen in Jura gemacht und wurde persönlicher Referent des Bankiers Hermann Jannsen an der Frankfurter Bank, später Geschäftsführender Direktor der BHF-Bank. Er war übrigens aufgrund seiner Kriegserfahrungen gegen die Wiederaufrüstung in der Adenauerzeit. Natürlich prägte Onkel Conni als Stiefvater dann unser Familienleben. Hierzu müsste ein weiterer Text geschrieben werden. Ich möchte hier jedoch wenigstens anmerken, dass wir, vielleicht sogar besonders ich, ihn in einem sehr liebevollen Andenken halten. Auf dem beigefügten Foto sieht man ihn, wie er auf der Burg Hohenzollern bei Hechingen dem Prinzen Louis Ferdinand von der schweren Depression seiner Frau, unserer Mutter, berichtet. Man sieht seine Erschöpfung und Verzweiflung und den mitfühlenden Blick des Prinzen. Wenige Minuten nach dem Foto erlitt er einen schweren Schlaganfall, der ihn so beeinträchtigte, der ihm so die Lebensfreude und Lebenskraft nahm, dass er am 14. November 1974 aus dem Leben ging.

"Onkel Conni" (re.) kurz vor seinem Tod mit Prinz Louis Ferdinand von Preußen
"Onkel Conni" (re.) kurz vor seinem Tod mit Prinz Louis Ferdinand von Preußen

Die depressive Erkrankung unserer Mutter in den letzten zehn Jahren ihres Lebens war vermutlich eine Folge der schweren Traumata, die sie erlitten hatte. Sie versuchte, mit der Krankheit zu leben, aber es gelang ihr immer weniger. Am 29. April 1983 wählte auch sie den Tod. Dies ist der größte Schmerz in unserem Leben.

„Vergangenheit lebt in uns weiter“ lautet am 12. Februar 2022 ein Interview mit Alexander Kluge in „Der Spiegel“. Kluge sagt hier zum Thema Vergangenheit und Prägung, dass z. B. sein Leben davon geprägt war, etwas Getrenntes verbinden zu wollen und dies, weil seine Eltern sich scheiden ließen und auch die Geschwister trennten. Dann wäre mein Leben von der Suche nach väterlicher Orientierung geprägt. Eine Freundin drückte es neulich so aus: „Dein ganzes Leben lang ist der Schatten des Vaters über Dir.“ Ja, das betrifft die schmerzliche Tatsache, dass mein Vater nicht bei mir war. Eigentlich ist es aber auch genau umgekehrt: Mein Leben lang liegt ein Licht in mir geborgen, weil ich weiß, dass mein Vater mit seinem Freitod einen Wert gesetzt hat. In dieser Weise lebt er also in mir weiter.

Auf der Suche nach väterlicher Orientierung ist für mich nicht nur sein Tod, sondern auch das Leben meines Vaters von großer Bedeutung, z. B. seine Verbindung mit Marion Dönhoff, für die er damals eine Vaterfigur war. Sieben Jahre arbeitete mein Vater für die Dönhoffs in Ostpreußen. Damals entstand die lebenslange, tiefe Freundschaft mit Marion Dönhoff. 

Als er in Friedrichstein die Forstverwaltung übernahm, war sie 14 und er 33 Jahre alt: „Plettenberg hat auf mich in jenen Jahren tiefen Eindruck gemacht. Ich glaube sicher, dass für mich ganz unbewusst, sich damals einige der Maßstäbe gebildet haben, die dann für mein Denken und Urteilen im Leben entscheidend geworden sind“, schreibt sie im März 1985 in ihren „Erinnerungen an Kurt von Plettenberg“ für eine größere Öffentlichkeit.

Ich bin wirklich beeindruckt, dass mein Vater eine später für das öffentliche Leben der Nachkriegsjahre in Deutschland und darüber hinaus so bedeutende Frau geprägt hat, und ich bin dem nachgegangen, welche Maßstäbe und Werte er ihr, dem damals jungen Mädchen, wohl vermittelt hat.  Einen seiner prägenden Gedanken möchte ich hier zitieren:  Er sagt zu ihr in einem Brief vom 2. Dezember 1942: „Aber eins wird mir doch immer klarer, dass die Bedeutung unserer Bindung zu Gott umso wichtiger wird, je mehr Menschen sich von ihr in einer maßlosen Überschätzung aller Äußerlichkeiten des Lebens lossagen. Mehr und mehr sein Leben darauf einzustellen, mit allen Kräften, die Gott einem gab, der Menschheit zu helfen, durch diese Zeiten zu steuern, bewusst Sorgen und Not tragen zu helfen u. immer wieder einen Weg zu Gott – zum Guten – zu suchen, das ist wohl unsere Aufgabe. (...) Es wird viel äußere Arbeit auf Dir lasten; aber halte Dir doch immer etwas Kopf und Herz frei für den anderen Teil des Lebens, der wohl mindestens ebenso wichtig ist.“

Von seiner Moral, seiner große Naturliebe, seiner Freude an der Literatur, seiner Wärme im Umgang mit den Mitmenschen, gerade auch den untergeordneten, seinem Humor – von allem diesem konnte ich bei der Bearbeitung des Briefwechsels erfahren. Eine Äußerung Marion Dönhoffs ist mir besonders wichtig: „Ich habe kaum jemanden gekannt, der so von innerer Heiterkeit erfüllt war, wie Kurt Plettenberg, für den Lachen ein existentielles Bedürfnis war…“ Diese Heiterkeit hat er mir genetisch übertragen.

Eine Kurzbiografie von Kurt Freiherr von Plettenberg und weitere Literaturhinweise finden Sie hier.