„Gedanken sind Kräfte“ - für Günther Smend wie für seine Familie

Günther Smend
Günther Smend © Privatbesitz

Auf den ersten Blick wirkt das Büchlein recht unscheinbar: 10,3 Zentimeter hoch, 7,5 Zentimeter breit und 2 Zentimeter dick. Doch für die Nachkommen von Günther Smend, den Graf Stauffenberg 1944 gebeten hatte, seinen Vorgesetzten Generaloberst Zeitzler, damaliger Chef des Generalstabes des Heeres, für den Umsturzversuch des 20. Juli 1944 zu gewinnen, ist die Lektüre von „Gedanken sind Kräfte“ ein Schatz, der hilft, Antworten zu finden.

Günther Smend ist am 1. August 1944 von SS-Männern auf dem Lehrter Bahnhof festgenommen und, wie zahlreiche Männer aus dem Widerstand, in das „Hausgefängnis“ der Gestapo-Zentrale in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8, gebracht worden. Nach Verurteilung durch Roland Freisler, den Präsidenten des „Volksgerichtshofs“, am 29. August 1944 wurde er am 8. September zusammen mit Georg Alexander Hansen, Ulrich von Hassell, Paul Lejeune-Jung, Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld und Josef Wirmer in Plötzensee erhängt. Seinen Sohn Axel beschäftigen bis heute wiederkehrend folgende Fragen, wenn er über seinen Vater nachdenkt:

„Was mag er damals, 31 Jahre alt, seit 1939 verheiratet, Vater von drei kleinen Kindern, in den Tagen zwischen Verhaftung, Verurteilung zum Tode und Hinrichtung gefühlt und gedacht haben? Wie hat er Folterqualen aushalten können? Wo waren dort seine ‚Ablenkungsgedanken‘? Was hat er gedacht, als er vor Freisler stand und dieser Bestie ins Auge hat sehen müssen? Sind ihm Zweifel gekommen ob seiner eigenen Entscheidung? Hat er dabei an seine Frau und seine Kinder gedacht? Gab es auch Lichtblicke? Wo und was waren seine letzten Gedanken, als er am 8. September in den Hinrichtungsschuppen von Plötzensee geführt wurde, um dort gehängt zu werden, wie zahlreiche andere? Ist jemand, der dorthin gebracht wird, überhaupt fähig, Gedanken zu haben?“

Auch Axels Mutter konnte diese Fragen nicht beantworten. Sie schrieb einmal: „Wir waren fünf Jahre verheiratet, davon ca. acht Monate inklusive Friedenswochen, Ferien und Genesungsurlaub zusammen; unsere Ehe bestand aus Feldpost und Feldtelefonen; sie ist mir in unvergesslicher, glücklicher Erinnerung.“

Günther Smend hat seiner Familie ein Büchlein hinterlassen mit dem Titel „Gedanken sind Kräfte“; es bietet Lektüre für jeden Tag im Jahr – zu verschiedenen Themenkreisen wie z. B Hoffnung, Liebe, Glaube, Tod. Im Mittelpunkt stehen ausgewählte Bibelworte, denen zur Vertiefung Zitate aus Literatur und Philosophie zugeordnet sind. Dieses Büchlein hatte ihm ein Vetter „zur Stärkung“, wie dieser im Umschlagtext formuliert hat, überlassen; Günther Smend durfte es bis zu seinem Tode behalten, mit Hilfe eines befreundeten Generals fand es seinen Weg zu seiner Frau. Mit Bleistift hat Günther Smend zahlreiche Zitate angestrichen, ausführlich kommentiert und zu bestimmten Daten eigene Anmerkungen hinzugefügt, persönlicher aber auch sehr grundsätzlicher Art. Für Sohn Axel ist dieses Büchlein ein Schlüssel, der hilft, Antworten auf Fragen zu finden, die er an seinen Vater hat.

Zum Büchlein selbst schreibt Günther Smend: „Ist es nicht ein wunderbares Buch? Es ist eine Fügung, dass ich es besitze. Es ist für mich geschrieben und gibt mir unendlich viel Kraft. Es gibt mir so viel innere Fröhlichkeit, Zuversicht und Hoffnung.“ Zum Glauben merkt er an: „Not lehrt beten; ich habe es wieder gelernt. Dieses Büchlein war mir ein großer Trost in den Tagen vor meinem Tode. Es ist auch mir so gegangen wie den meisten Menschen: ich habe den Weg zu Gott in höchster seelischer Not gefunden, und es hat viel geholfen. Auch meine Kinder sollen in diesem Glauben aufwachsen und wissen, dass ihr Vater seinen Trost in ihm fand.“

Das am 1. August 1944 erwähnte Bibelwort streicht er sehr kräftig an: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten“ (2.Tim.4, Vers7) und bemerkt dazu: „Der Spruch des 1.8. schien mir so gut zu passen für mich.“ Er unterstreicht den Satz von Johann von Müller: „Nur ein Übel ist unheilbar“, nämlich „wenn der Mensch sich selbst aufgibt“, und merkt an: „Das habe ich gewiss nicht getan.“

Buchcover "Gedanken sind Kräfte"
Buchcover "Gedanken sind Kräfte" © Privatbesitz

Notizen von Günther Smend in dem Bändchen »Gedanken sind Kräfte«:

31. Juli: »Abschied von Ostpreußen. Ich wußte, daß ich am nächsten Tag verhaftet werden würde. – Am Abend las ich im Schlafwagen in dem Büchlein. Der Spruch des 1.8. schien mir so gut zu passen für mich. –«
1. August: »An diesem Tage wurde ich verhaftet. – Das Ende war mir trotz vieler Zweifel klar. Es mußte so sein. –«

Andere Hinweise und Anmerkungen betreffen vor allem liebevolle Gedanken an seine Frau und seine Kinder, in allergrößter Sorge, da er nichts mehr über sie weiß. Im Büchlein wie auch in seinen im Gefängnis für die Frau mit Bleistift geschriebenen Notizen – häufig auf Papierschnipseln von Zeitungsrändern oder Toilettenpapier, und im Fotorahmen versteckt – gelangen immer wieder folgende Gedanken zum Ausdruck (weitestgehend Zitate):

Günther Smend mit seinen Kindern Henriette und Rudolf (v.l.)
Günther Smend mit seinen Kindern Henriette und Rudolf (v.l.) © Privatbesitz

- der entsetzliche Gedanke, seine Frau und seine Kinder nicht wiederzusehen;
- der ihn niederdrückende Gedanke, Frau und Kinder in ein unermessliches Unglück zu stürzen, da sie das Odium, Frau und Kinder eines Verräters zu sein, niemals wieder loswerden, auch mit dem Vorschlag an unsere Mutter, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen, um Makel von ihr und den Kindern fernzuhalten;
- der daraus resultierende Gedanke, die Familie werde zwar sofort ausziehen müssen, aber als Verräterfamilie keine andere Wohnung finden;
- das Anflehen seiner Frau, der Kinder wegen nicht den Mut zu verlieren;
- die Einsicht, dass der Quell seiner Kraft zum einen seine über den Tod hinaus dauernde Liebe zu seiner Frau ist, zum anderen der Glaube an das ewige Leben und an Gott;
- und immer wieder der Hinweis auf den Trost, den ihm dieses Büchlein „Gedanken sind Kräfte“ spendet.

Das Buch „Gedanken sind Kräfte“ ist für die Familie von Günther Smend zu einem Schatzbüchlein geworden: einerseits hilft es, sich dem Vater in dessen letzten Wochen zu nähern und ihn im Gefängnis gedanklich zu begleiten, andererseits bietet es den Kindern selbst Orientierung, Halt und auch Trost.

 

Eine Kurzbiografie mit weiteren Literaturhinweisen zu Günther Smend finden Sie hier.

Link zum Interview mit Axel Smend (Sohn von Günther Smend): Leben als Sohn eines Widerstandskämpfers