Ansprache Feierstunde

Feierstunde der Bundesregierung und der Stiftung 20. Juli 1944 am 20. Juli 2020 um 10:00 Uhr in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin anlässlich des 76. Jahrestages des 20. Juli 1944


Philipp von Schulthess, Unternehmer und Enkel von Claus Schenk Graf von Stauffenberg


(Redetext: Dr. Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a. D., und Philipp von Schulthess)


I.


Was wäre Deutschland ohne den 20. Juli 1944?


Kann ein Unterfangen, das so umfassend gescheitert ist, überhaupt einen Sinn oder gar eine historische Bedeutung haben?


Direkt nach dem 2. Weltkrieg, ab dem 8. Mai 1945, waren die Familien der beteiligten Widerstandskämpfer, wie auch die überlebenden Verschwörer, vielfach allein, wenn sie in quälenden Tagen und Nächten Antworten auf diese Frage suchten. Eingeschlossen in ihre Familiengeschichte und Trauer. Auch 75 Jahre danach suchen wir noch Antworten.


Die Frage nach dem Sinn des 20. Juli war nicht die Frage aller Deutschen nach '45. Es war auch nicht die Trauer aller Deutschen. Wären sie es gewesen, so hätten die Familien der Hingerichteten den Verlust vielleicht leichter ertragen. Aber so war es nicht, und warum das nicht so war, erzählt uns viel über die Deutschen und ihr Verhältnis zu sich selbst und zur eigenen Vergangenheit. Es gab dafür Gründe, die man nachträglich verstehen kann, es gab aber auch solche, die bis heute schwer zu begreifen sind.


II.


Die erste Version einer Deutung des 20. Juli hatte ihre Wurzeln in den hasserfüllten Tiraden des überlebenden Diktators. Sie lautete: Das Attentat sei ein Verrat „einer ganz kleinen Clique von ehrlosen Offizieren.“ Verrat am Führer, Verrat am deutschen Volk. Eine Art zweite Dolchstoßlegende.


Diese mögliche Interpretation ihrer Tat, auch im Erfolgsfall, war den Akteuren des inneren Kreises der Attentatspläne durchaus bewusst. Es war klar, dass sie von den Nationalsozialisten gehasst werden würden. Sie wussten aber auch, dass sie, im Gegensatz zu echten Revolutionären, nicht im Auftrag ihres Volkes handeln konnten. Gewiss war es so, dass die Deutschen des Jahres 1944 zunehmend vom Krieg und seinen Millionen Opfern, von den Bomben und dem NS-Terror zermürbt waren und sich ein Ende herbeisehnten. Dennoch, die Männer und Frauen des 20. Juli durften nicht einmal vermuten, dass sie den Mehrheitswillen der Bevölkerung hinter sich hätten. Im Gegenteil sie mussten die Einsamkeit, Zweifel und Ambivalenz ihrer Entscheidung aushalten. Rückblickend können wir urteilen, dass ihr Vorhaben richtig war. Ihnen aber blieb dieser Blick verwehrt. ­Das alles wussten sie. Und sie litten darunter, nicht zuletzt, weil es sowohl die Gruppe wie auch den einzelnen im Inneren zu zerreißen drohte. Die außerordentliche Fähigkeit dennoch unbeirrt weiterzugehen, ist eines der Merkmale, das sie auszeichnet.


In der Kluft zwischen Akteuren und Begünstigten des Widerstands lag eine Fremdheit, eine Distanz, die auch in der ersten Nachkriegszeit nicht überwunden wurde. Sie war einerseits geprägt vom nackten Überlebenswillen und der großen Alltagsnot derer, die den Krieg überlebt hatten, andererseits vom Bestreben, vergessen zu wollen, um überhaupt die Kraft zum Neuanfang zu finden, zum Wiederaufbau eines völlig zerstörten Landes. Schließlich war diese Zeit auch geprägt vom Verdrängen des allmählich auftauchenden Bewusstseins einer großen Schuld. Für Trauer war da kein Platz und nur wenige wagten den Blick zurück. Es dauerte 10 Jahre, bis es die erste Gedenkfeier gab, an der Bundespräsident Theodor Heuss sprach und davon bewegt war, sich zum 20. Juli bekennen zu dürfen und dafür danken zu können.


III.


Was dann folgte, im Gedenken an die Ereignisse des 20. Juli, war das Suchen nach Einzelschicksalen und Einzelpersönlichkeiten aus dem Widerstand, die als Vorbilder für eine noch unsichere Republik hätten dienen können. Autoren wie Marion Dönhoff, Joachim Fest und Ralf Dahrendorf schrieben bewegende Portraits und brachten das Anliegen der einzelnen Widerstandskämpfer und ihre Motive den Deutschen nahe. Viele aber blieben unbekannt. Auch Historiker fragten selten nach ihnen. Dass tatsächlich tausende im Widerstand waren und, dass es annähernd 40 verschiedene Attentatsversuche gegeben hat, bleibt den meisten Deutschen bis heute verborgen.


Diese Dynamik wurde verstärkt durch die alles bestimmende und einseitige Sichtweise des Kalten Krieges. Die DDR gedachte des kommunistischen und allenfalls des sozialdemokratischen Widerstands. Der Westen des bürgerlichen, kirchlichen, sozialdemokratischen und militärischen. Im Gegensatz dazu ist es beachtlich, wie die Verschwörer in der Planung ihres gemeinsamen Staatsstreichs bewusst das Verbindende suchten. Dass sie sich um der Sache willen über alles Trennende hinwegsetzten. Die Gemeinsamkeit, die in den Konzentrationslagern und in den Schauprozessen Freislers noch Realität war, hätte ein vereintes Gedenken erfordert. Das zerbrach aber am Diktat der Logik des Kalten Krieges.


Dazu kam noch etwas, was ich aus meiner eigenen Erfahrung gut nachvollziehen kann: Meine erste Begegnung mit der Gedenkfeier war 1984. Ich war 11 Jahre alt und durfte ins geteilte Berlin. Ich war berauscht von der Verehrung für den Mut der Täter und schwebte in der kindlichen Überzeugung, dass sich der Anlass im Wesentlichen um meinen Großvater und damit auch ein bisschen um mich drehte. Der Stolz eines Buben wurde in den folgenden Jahren verdreht in die Scham dafür, Aufmerksamkeit und Bewunderung für Taten zu erhalten, an denen ich nicht beteiligt war. Ich fühlte mich wie ein Hochstapler. Wie viel schwieriger musste das für diejenigen sein, die sich passiv als Mitläufer vom NS Regime hatten mitreißen lassen. Alle, die dem Terror gefolgt waren – und sich vielleicht, vielleicht auch nicht, Vorwürfe machten – lebten noch. Wie konnten sie denen gerecht werden, die eine andere, weniger belastete Vergangenheit hatten? Die Hingerichteten von Plötzensee waren ein still schreiender Vorwurf in Bezug auf das eigene Versagen. Damals begann das komplizierte Verhältnis der meisten Deutschen, der Mitläufergeneration, zu denen, die im Widerstand waren oder im Exil. Das traf als immer deutlich spürbare Distanz nicht nur die Widerstandsfamilien. Es betraf die Haltung zu Claus von Stauffenberg und Henning von Tresckow ähnlich wie die zu Willy Brandt, Marlene Dietrich oder Thomas Mann. Sie wurden alle bestenfalls als moralische Vorbilder gesehen, aber sie blieben Fremde – mit fremden Schicksalen.


IV.


Wiederum 10 Jahre später, bei der ersten Nachkriegsgeneration – den 68ern – hätte das eigentlich anders sein müssen. War doch das konstituierende Motiv ihrer Revolte der Widerstand gegen die Väter, die Tätergeneration. Das war unvermeidlich und zwingend: Sie waren konfrontiert mit dem zunehmenden Wissen aus den Auschwitzprozessen, der historischen Aufarbeitung der Funktion des NS-Staates und den ersten Zeitzeugen der vielen jüdischen und anderen NS-Opfer. Daraus musste eine ohnmächtige Wut entstehen auf die, die all das geplant, mitgemacht oder doch passiv toleriert hatten. Es war sehr schwer, sich als Erbe und Teil eines Volkes mit dieser Unrechts-Tradition zu verstehen. Aber warum führte das nicht zu einem brennenden Interesse an denen, die wenigstens versucht hatten, alledem ein Ende zu setzen?


Der erste Grund: Die Attentäter waren historisch schon zu weit von uns entfernt, in ihrem Charakter, ihrer Motivation, in ihren Werten und in der Tradition ihrer Handlungen. Die Antworten, die in ihrer Zeit schlüssig waren, erschienen damals, wie auch heute, für ein neues Zeitalter nur ganz bedingt zu passen. Viele der Leute des 20. Juli waren konservativ, bürgerlich oder adelig, gläubige Christen, dazu noch Militärs, sie kamen aus Ostpreußen oder Baden-Württemberg, also aus der Provinz. Sie passten nicht in die Welt der eigenen Idole von Jimmy Hendrix und Bob Dylan bis hin zu Martin Luther King. Und sie waren irgendwie so „deutsch“ und so sehr am Schicksal Deutschlands interessiert, genau an dem, was für die meisten 68er als einzige Schmerzstelle empfunden wurde. Näher am Interesse dieser Generation lag dann schon der kommunistische und sozialdemokratische Widerstand, aber auch der fiel irgendwie unter den Generalverdacht, einer anderen Diktatur, nämlich derjenigen Stalins, nicht aufrecht genug widerstanden zu haben.


Der zweite Grund war das Scheitern des Attentats. Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Umgekehrt bedeutet ein gescheitertes Attentat mehr als einen zweiten Tod. Es trägt die Vergeblichkeit auf der Stirn eingebrannt. Man mag sich nicht gern damit identifizieren.


Im heutigen Umgang mit dem versuchten Staatsstreich und dem gescheiterten Attentat irritiert die nachträgliche Abwertung durch glückliche Später-Geborene, die genau zu wissen scheinen, wie Stauffenberg, Tresckow und die anderen es hätten besser anstellen sollen. Wer sich aber mit der Vorgeschichte der Staatsstreichpläne befasst, kann dagegen mit Gewissheit feststellen, dass keiner der Verbesserungsvorschläge der späteren Möchtegern-Attentäter den Akteuren damals unbekannt war. Sie waren zu allem entschlossen, viele waren erfahrene Militärs. Sie riskierten das eigene wie auch das Leben ihrer Familien. Das war bitterster Ernst. Es kam ihnen nicht nur auf eine symbolische, vielleicht ethische Handlung an, bei der es egal war, ob sie gelang oder nicht. Im Gegenteil: Sie haben unter schwierigsten Bedingungen nächte- und monatelang konspirativ überlegt, wie es gelingen könnte. Sie wollten wirklich den Krieg beenden, sie wollten wirklich in sofortige Friedensverhandlungen eintreten und sie wollten wirklich die Diktatur, den Terror in den Lagern und das Unrechtsregime beenden.


Es ist unendlich schwer – und sollte uns demütig machen – eine real herrschende Diktatur zu beenden. Es ist noch schwerer unter den Bedingungen eines Weltkrieges. Es ist auch fast unmöglich, einen perfekt in seinem Hauptquartier von allen Außenkontakten abgeschirmten Diktator zu töten. Es ist eine bittere historische Wahrheit, dass es in Demokratien viele gelungene Attentate gab, die den Lauf der Welt tragisch geändert haben. Aber es gelang fast nie gegen Diktatoren. Trotzdem waren die Widerstandskämpfer zu dem gemeinsamen Entschluss gekommen: Wir müssen es versuchen – koste es was es wolle. Ihr Scheitern kann uns als Mahnung dienen. Ein jeder von uns ist gefragt, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen, es zu schützen und zu formen. Wir dürfen uns nicht auf erträumte Helden aus dem Off verlassen, gerade aus dem Grund, dass auch sie scheitern können.


Was hat uns das alles heute, 75 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, noch zu sagen?


Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein TAG DER BEFREIUNG. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen. Es hält sich übrigens vom Sprachgebrauch des Kalten Krieges bis heute die Fehlinterpretation, diese Befreiung sei nur den westlichen Alliierten zu verdanken. Die so viel zahlreicheren Verluste und Opfer der damaligen Sowjetunion werden so wenig erwähnt wie betrauert.


Vor 30 Jahren, am Tag der Wiedervereinigung, war es schon einfacher, von BEFREIUNG zu sprechen, als die friedlichen Bürgerproteste das Ende der DDR und den Anfang eines geeinten Deutschlands einläuteten. Auch dabei ging manchmal im Laufe der Jahre die Erinnerung daran verloren, dass einen erheblichen Anteil am unblutigen Verlauf jener Revolution die Friedlichkeit eines Michael Gorbatschows hatte, der seine Truppen in den Kasernen ließ, weil er auf ein „gemeinsames Haus Europa“ hoffte, in dem auch sein Land einen Platz einnehmen dürfte.


Heute aber, am 20. Juli 2020, sollten wir einer dritten BEFREIUNG gedenken. Sie lag in der Tatsache, dass es einmal in finsterer Zeit Frauen und Männer gegeben hat, die sich von nationaler Verblendung und von der Angst und dem Gehorsam gegen Diktatur und Terror innerlich befreit haben. Diese SELBSTBEFREIUNG von Wahn und Angst ist sehr schwer – und sie ist selten.


Ich glaube, es ist für alle heute und später lebenden Generationen der Deutschen von zentraler befreiender Wirkung, dass es einmal diese Menschen im Widerstand gegeben hat, die mit der Schuld und der Schande ihres Volkes einfach nicht weiter leben wollten. Sie waren keine unfehlbaren Lichtgestalten, sie haben zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens auch Irrtümer begangen darunter gravierende, unverzeihbare. Aber sie waren Menschen, die zur notwendigen Zeit nicht länger wegsehen wollten. Sie konnten für sich und für die nach ihnen Kommenden nicht länger ertragen, dass das hassverzerrte Gesicht eines Diktators und die Schreckensbilder der vom NS-Regime verursachten Millionen Toten das am Ende gültige Bild aller Deutschen darstellen sollte.


Die Widerstandsversuche und Attentate gegen Hitler und sein Regime von Verbrechern scheiterten, aber die Geschichte hat dieses Scheitern in einen Erfolg umgeschrieben. Einen Erfolg, weil es unsere Identität als Deutsche mitprägt. Woher immer diese tapferen Menschen kamen: aus der Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften, den Kirchen, aus dem konservativen oder sozialistischen Lager, aus dem Exil oder aus dem Landesinneren, aus den Bereichen der Kultur oder des Militärs, sie befreiten Deutschland von der unerträglichen Qual, das alles sei geschehen ohne Widerstand, ohne Versuche, das Schicksal noch einmal zu wenden. Ihr Handeln gibt uns keine Absolution für die Schuld und die Verantwortung, die wir Deutschen tragen müssen. Aber ihr Zeugnis und ihre Taten haben uns geholfen, einen geachteten Platz unter den Völkern der Welt einzunehmen. Dass die Deutschen es nicht allein geschafft haben, bleibt ewig ein Gegengift für jede Form der Selbstüberschätzung oder des Hochmuts gegenüber anderen Nationen. Aber dass diese mutigen Frauen und Männer es überhaupt versucht haben, ist ein bleibender Grund für vieles, was danach kam: das Grundgesetz, die Demokratie, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Vision eines friedlich vereinten Europas.


Wir können heute sagen: Der 20. Juli war ein TAG DER BEFREIUNG. Das bleibt gültig, obwohl der Umsturz gescheitert ist.


 

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