Der 20. Juli 1944 steht symbolhaft für den gesamten Widerstand gegen Hitler.

Rainer Eppelmann

Der 20. Juli 1944 steht symbolhaft für den gesamten Widerstand gegen Hitler.

Gedenkrede des Ministers für Abrüstung und Verteidigung der DDR Rainer Eppelmann am 20. Juli 1990 in Strausberg

Der 20. Juli 1944 ist ein geschichtliches Datum. Geschichte wird von Menschen gemacht, gestaltet und verantwortet und erlitten. Menschen prägen den Raum und werden selbst geprägt. Wir sind immer Prägende und Gestaltende, Geprägte und Gestaltete zugleich, Täter und Opfer.

Ich will kein Geschichtsbild des 20. Juli entwerfen. Das haben andere bereits ausführlich getan. Aber aus tiefer Überzeugung möchte ich zu dem, was andere mitteilten und auch verschwiegen, hinzufügen: Der 20. Juli 1944 steht für mich symbolhaft für den gesamten Widerstand gegen Hitler. Dieser Widerstand war vor allem ein politischer, ethischer, moralischer und von tiefem Humanismus geprägter.

Sie wissen, ich komme aus einer christlichen, aus einer pastoralen Tradition. Christentum war auch immer eine Religion der Opfer, der Hingabe, des Dienens. Derjenige, der verloren hat, der von der geschichtlichen Bildfläche scheinbar verschwand, hat über die Täter gesiegt.

Christi Anhänger haben seine Botschaft weitergetragen. Sie haben die Taten und die Geschichte ausgelegt. Jesus von Nazareth hat auch deshalb gesiegt, weil die Anhänger sich den Ideen, dem Menschenbild und den transzendentalen Vorstellungen und Bindungen des Opfers verpflichtet fühlten.

Geschichte fordert von uns immer wieder die Entscheidung, in welcher Tradition wir weiterleben wollen, leidend und gestaltend. Auschwitz war ein solcher geschichtlicher Entscheidungspunkt. Meine Eltern mussten sich entscheiden, nachdem ihnen die ganze Tragweite des Geschehens bewusst geworden war, ob sie in der Tradition der Opfer oder der Täter als Deutsche weiterleben wollten.

Die Abwürfe der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki waren ebenfalls solche Ereignisse, Tschernobyl ein anderes, Seveso, Vietnam, Prag dürfen nicht vergessen werden. Leningrad ist für mich vor kurzem zu einem solchen Ort geworden.

Daneben gibt es Zeitpunkte in der Geschichte, Zeitpunkte der Wende, des Niedergangs und des Neubeginns. Für mich und mein Leben sind das Daten wie z.B. 1945 und der Herbst 1989.

Der 20. Juli 1944 ist für mich ein Datum, das in der Tradition der Opfer steht. Und damit meine ich nicht die Gruppe der Militärs. Ich meine auch die Tausende, die ihre Wahrnehmung, ihre „Auslegung“ in die Konzentrationslager, in den Widerstand und in den Tod führte, ich meine die Zahllosen, die in die innere Emigration gingen, die sich in wechselseitigem Vertrauen stärkten. Sie wurden Opfer und sich Wehrende gegen ein wüstes Denunziantentum, gegen den Machtmissbrauch vieler kleiner Beamter, vieler Blockwarte und KZ-Aufseher. Sie wehrten sich aktiv und passiv gegen die menschliche Unzulänglichkeit und gegen die Unterdrückung als Prinzip. Der 20. Juli war ein Kulminationspunkt im Aufbäumen gegen nationalsozialistische Diktatur und Verbrechensherrschaft.

Sie alle kennen die uns geläufigen Benennungen, die dieses sich wehren, dieser Widerstand in unserem Teil Deutschlands gefunden hat. Es war immer eine Auslegung. Es war immer nur Kampf gegen Faschismus, gegen die Naziherrschaft, gegen das verbrecherische Regime. Diese Sichtweise ist sicherlich nicht unrichtig. Aber es ist immer nur eine Sichtweise.

Ich las in der Broschüre zum 20. Juli den Satz: „Die Furie vernichtete weitere unwiederbringliche materielle Werte und Kulturgüter“. Für mich war das nicht die Furie. Es waren Menschen, die da vernichteten, sich zum Vernichten missbrauchen ließen. Väter und Söhne, Geliebte und Liebende haben Panzer gefahren und Bomben abgeworfen, aus den unterschiedlichsten Motiven. Nachdenkliche und Gedankenlose, unter Gewissensqualen und mit der festen Absicht zu töten und zu vernichten. Es waren Mütter und Töchter, die in Konzentrationslagern andere Menschen gequält haben und sie verhungern ließen. Es waren Ärzte und Dreher, Büroangestellte und Maurer, Ingenieure und Verkäufer, die in der Rolle von Soldaten die Vernichtung von Leningrad und Warschau, von Coventry und Dresden betrieben.

Und – meine Damen und Herren – es waren Männer und Frauen, die sich dagegen gewehrt haben, Offiziere, wie die, die wir heute ehren, Studenten, wie die Geschwister Scholl, Pastoren, wie Bonhoeffer; Kommunisten, Sozialisten, Arbeiter und Intellektuelle. Verschwörer waren das nicht. Es waren aufrechte Menschen, die gewissenhaft, rational begründet handelten und dachten. Himmler hatte in seinem Dienstbereich durch einen Erlass untersagt, sich bei Handlungen auf ein Gewissen zu berufen.

Diejenigen, die sich auf die Seite der Opfer schlugen, die zum Widerstand aufriefen oder Widerstand leisteten, beriefen sich auf ihr Gewissen. Sie wurden von dem Zwang eines gequälten Gewissens, von der Scham über Untaten und Lügen im Namen Deutschlands getrieben. Sie fühlten sich zur Verantwortung gezogen vor Gott und vor sich selbst, „um des deutschen Namens willen“, wie einige immer wieder bezeugten.

Sie wollten ihre Furcht überwinden. Sie wollten die Gewissenlosigkeit, den Machtmissbrauch, die Menschenverachtung überwinden und bekämpfen. Sie hatten die politische, geistige und materielle Vernichtung der Polen, Russen, Franzosen, der Kommunisten, der Zigeuner, der Homosexuellen, vieler Künstler und vieler Wissenschaftler und vor allem der Juden voller Scham erlebt. Sie hatten erlebt, wie diese Menschen durch nichts anderes als ihre Herkunft zu Freiwild für Verfolgung und Vernichtung wurden.

Dagegen haben sie sich gewehrt, die Stauffenbergs und Tresckows, die Bonhoeffers und Brechts, in deren Tradition wir leben wollen und im November 1989 auch gelebt haben.

Und das waren nicht nur einige Pastoren, das waren eben auch einige Offiziere und Soldaten dieser Nationalen Volksarmee, die sich rational und emotional dieser Tradition verpflichtet fühlten.

Es gibt eine Vielzahl von Parallelen und viele Unterschiede zwischen dem 20. Juli 1944 und dem Herbst 1989. Selbst wenn die Offiziere am Abend des 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen wären und die Oberhand gewonnen hätten, wäre Deutschland nicht mehr zu retten gewesen. In Ostpreußen hörte man bereits den Kanonendonner. Die Emissäre der Widerstandsbewegung, die aus Schweden, Spanien und der Schweiz zurückkehrten, wo sie sich insgeheim mit Abgesandten der Feindmächte getroffen hatten, übermittelten die bittere Wahrheit: Den Deutschen blieb nichts anderes übrig als die bedingungslose Besetzung des Landes, womöglich die Teilung des Reiches.

Auf diesem Hintergrund und mit dieser Erkenntnis handelten die Männer des 20. Juli 1944. Der Name Stauffenberg wurde unsterblich.

Stauffenberg hatte versucht, von Deutschland, von Europa, von der Welt etwas abzuwenden. Er sah den Niedergang einer Epoche. Er wollte aufbauend etwas retten. Bis zum wirklichen Niedergang, bis zum Ende Adolf Hitlers vergingen noch neun Monate. In diesen neun Monaten sind an den Fronten, in den bombardierten Städten, in den Konzentrationslagern und auf der Flucht mehr Menschen umgekommen als in den Kriegsjahren zuvor. Viele alte Städte gingen in den Feuerstürmen zugrunde: Königsberg, Aachen, Breslau, Freiburg, Nürnberg, Dresden, Hildesheim und Stuttgart.

Um der sinnlosen Opfer willen ist jeder Widerstand gerechtfertigt gewesen. In diesem Bewusstsein habe ich einigen Offizieren dieser Armee, der Nationalen Volksarmee, gedankt, dass sie dafür gesorgt haben, dass sie im Herbst 1989 über die DDR keine „chinesischen Verhältnisse“ kommen ließen. In diesem Zusammenhang fordert das Vermächtnis des 20. Juli 1944 von den Angehörigen der NVA, sich zu den neuen verfassungsmäßigen Verhältnissen und einer demokratischen und menschenwürdigen Ordnung zu bekennen.

Das ist die Tradition Stauffenbergs und der Menschen, die in tiefem Ringen mit ihrer Loyalität, ihrer Gehorsamspflicht und ihrem Gewissen so gehandelt haben. Ihnen fühlen wir uns verpflichtet in Dankbarkeit und im Eingeständnis eigener Schuld und eigenen Versagens. Aus diesem Grund nennen wir heute das ehemalige Haus 20, den Hauptsitz des Ministeriums, um in Stauffenberg-Haus.

Wir wollen damit ein Signal setzen, eine Verpflichtung eingehen. Wir wollen nicht blinden Gehorsam, wir wollen den verantwortlichen, mitdenkenden, der Demokratie und den Menschenrechten verpflichteten Bürger in Uniform.

Haus Drei geben wir den Namen Tresckow-Haus.

Vor dem Attentat hatte Stauffenberg seinen Freund Tresckow gefragt, ob sich denn das Opfer überhaupt lohne. Tresckows Antwort steht für mich wie ein Aushängeschild für die Handlung und die moralische und geschichtlich begründete Tat der Offiziere. Er sagte:

„Das Attentat muß erfolgen, koste es, was es wolle. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist dagegen gleichgültig!“

Das „koste es was es wolle“ ist für mich nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber eines erscheint mir sicher: Deutschland wäre nie so schnell in die Völkergemeinschaft aufgenommen worden – und das gilt für Osteuropa und Westeuropa –, wenn es nicht die Gruppe um Stauffenberg und Tresckow gegeben hätte. Von daher ist es ein Vermächtnis, das wir bewahren wollen.

Gebe Gott uns weitsichtige Offiziere und Zeiten, in denen wir keine militärischen Helden brauchen!

Aber, werte Freunde, zivile Helden – mit und ohne Uniform – werden immer gefragt und gefordert bleiben.







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20.07.1990
Rainer Eppelmann